Stellungnahme des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (EbM)

Stellungnahme des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (EbM)

Berlin, 25. August 2020

 

 In den Medien werden die Informationen über COVID-19 oft in einer irreführenden Art und Weise dargestellt, z. B. durch missverständliche Ranglisten, fehlende Vergleichsgruppen und umstrittene Einzelfallberichte.. Die aktuellen Daten zu COVID-19 sind mit großer Unsicherheit behaftet. Das EbM-Netzwerk fordert in seiner aktuellen Stellungnahme eine evidenzbasierte Risikokommunikation.

Bereits in zwei früheren Stellungnahmen zu COVID-19 (20. März und Update vom 15. April 2020) hat das EbM Netzwerk die Beachtung wissenschaftlicher Kriterien einer evidenzbasierten Risikokommunikation in der medialen Berichterstattung gefordert. Auch wenn es Verbesserungen im zeitlichen Verlauf gibt, besteht das Problem der missverständlichen Kommunikation weiterhin. Selbst in renommierten Medien wie beispielsweise der Süddeutschen Zeitung, im öffentlichen Fernsehen, aber auch international, etwa beim Fernsehsender der BBC oder CNN, werden die Informationen über COVID-19 oft in einer irreführenden Art und Weise berichtet. Andererseits finden sich auf den Websites mancher Leitmedien inzwischen auch qualitativ hochwertige Hintergrundinformationen.

Wissenschaftsbasierte Risikokommunikation

Seit nunmehr drei Jahrzehnten beschäftigen sich verschiedene internationale Arbeitsgruppen mit der Frage, wie Informationen zu Gesundheits- und Krankheitsfragen präsentiert werden sollen, damit sie von einer breiten Bevölkerungsschicht verstanden werden können. Auch das EbM Netzwerk hat schon vor Jahren gemeinsam mit Vertreter*innen aus den Medien, Medizin und Gesundheitssystem Kriterien für eine wissenschaftsbasierte und verständliche Risikokommunikation definiert. Es gibt dazu Publikationen wie die „Gute Praxis Gesundheitsinformation 2.0“ (siehe Box unten) und eine Leitlinie zur Erstellung von evidenzbasierten Gesundheitsinformationen. Die Kriterien finden sich inzwischen in den Methodenpapieren von Institutionen, die Gesundheitsinformationen erstellen, beispielsweise dem IQWiG (https://www.gesundheitsinformation.de/, Methoden), medizinischen Fachgesellschaften wie der AWMF oder dem ÄZQ (Entwicklung von Patientenleitlinien) oder anderen Entwickler*innen von Gesundheitsinformationen, etwa der Stiftung Gesundheitswissen.

Auch das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin hat immer wieder eine wissenschaftsbasierte Risikokommunikation zu Gesundheitsthemen in den Medien eingefordert. Ein aktueller Beitrag von Odette Wegwarth und Koautor*innen zur COVID-19-Risikokommunikation nennt eine Reihe relevanter Kriterien, wie sie auch vom EbM Netzwerk formuliert wurden. Die unzureichende Befolgung dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse der Risikokommunikation führt aktuell zu missverständlichen Informationen.

Irreführende Darstellungen in den Medien

Selbst in den Leitmedien wurden zur Beschreibung des Infektionsrisikos über Monate lediglich Fallzahlen ohne Bezugsgrößen und unter Verwendung unpräziser Bezeichnungen benutzt, etwa „Bisher gibt es X Infizierte und Y Todesfälle“. Dabei wird nicht zwischen Testergebnissen, Diagnosen, Infektionen und Erkrankungen differenziert. Üblicherweise handelt es sich um „gemeldete positive Testergebnisse“. Dabei bleibt unklar, ob das Testergebnis richtig positiv ist, also eine Infektion mit SARS-CoV-2 tatsächlich anzeigt. Auch wäre jeweils relevant, ob und wie schwer die Personen erkrankt sind. Diagnosen sind noch keine Krankheiten. Gerade für COVID-19 wäre wichtig zu wissen, wie viele Personen tatsächlich so krank sind, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen. Die immer noch genutzte Aussage „Heute gab es X Infektionen“ ist falsch, da die Gesamtzahl der Infizierten unbekannt bleibt. Dazu bräuchte es eine zeitgleiche vollständige Testung einer repräsentativen Stichprobe aus der Bevölkerung. Eine korrekte Formulierung könnte lauten: „Heute wurden XY neue positive Testergebnisse gemeldet.“ Und „Die Anzahl der Testungen hat sich in der letzten Woche von AA auf BB erhöht.“

Die tägliche Berichterstattung der gemeldeten Fälle ist kaum interpretierbar, wenn nicht bekannt ist, wie viele Tests bei welchen Personen durchgeführt wurden. Je mehr getestet wird, umso häufiger finden sich auch richtig oder falsch positiv getestete Personen (Lühmann D, KVJ Hamburg Sep/2020). Je häufiger gesunde und beschwerdefreie Menschen untersucht werden, umso eher gibt es auch positive Ergebnisse von fraglicher Bedeutung. Die falsch-positiv-Rate müsste dementsprechend erwähnt werden.

Missverständliche Ranglisten

Der amerikanische Präsident rühmte sich am 1. April 2020 mit der Meldung, dass nirgendwo in der Welt so viel auf das Coronavirus getestet würde wie in den USA. Gleichzeitig überschlugen sich die Medien in der Dramatisierung der Todesfälle in den USA – nirgendwo in der Welt würden aktuell so viele Menschen an Covid-19 versterben wie in den USA. Beide Meldungen sind höchst irreführend. Eine Bewertung der rohen Fallzahlen ist nicht möglich, da Bezugsgrößen wie die Gesamtzahl der Menschen, die in einem Land leben, nicht berücksichtigt werden.

In verschiedenen Medien wurden über Monate Ranglisten von Fällen präsentiert. Grafiken zeigten für die einzelnen Länder, Bundesländer oder Regionen Rohdaten ohne Bezug zur Bevölkerungsgröße. Die Listen mit Fallzahlen täuschen die Leserschaft, auch wenn die Quellen genannt werden und Seriosität vermitteln sollen. Es fehlen die Nenner. Die Angaben müssten sich auf eine konstante vergleichbare Größe beziehen, üblicherweise auf 100.000 Einwohner. Die Daten für Ländervergleiche sind verfügbar, z.B. über das ECDC. Damit ändern sich die Rangfolgen zum Teil erheblich. Mit Stand 19. August 2020 hat England bisher mit 62 Covid-19 assoziierten Todesfällen pro 100.000 Einwohner mehr Fälle gemeldet als die USA mit 52 pro 100.000, Deutschland verzeichnet 11 pro 100.000, Peru hingegen 82 pro 100.000. Es ist nicht ersichtlich, warum dennoch eine nicht interpretierbare Darstellungsform gewählt wird. Im ARD-Fernsehen wird auch Anfang August noch behauptet, dass die am schlimmsten betroffenen Länder die USA und Brasilien wären.

Manche Ranglisten enthalten absurde Informationen. Die niedrigen Fallzahlen unterliegen starken Schwankungen. Ein numerischer Anstieg von 2 auf 4 Fälle wäre rein rechnerisch eine Zunahme um 100%. Die Süddeutsche Zeitung markierte dennoch über Wochen täglich die Veränderungen mit gelben bis roten Pfeilen. In der Ausgabe vom 30. Mai findet sich für Mecklenburg-Vorpommern in der Spalte „Neue Fälle“ die Zahl „0“. Der Pfeil in der Spalte „Trend“ ist rot und markiert einen Anstieg. Auch wenn es mathematisch korrekt sein mag, die Leser*innen können solche Informationen nicht einordnen.

Gelegentlich werden in letzter Zeit auch die Genesenen berichtet, wodurch zumindest eine Abschätzung der aktuell als positiv getestet und gemeldeten Personen möglich ist. Genesene sind keine Kranken.

Fehlende Vergleichsgruppen

Auch Angaben zu Covid-19 Fällen im Krankenhaus ohne Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Erkrankungen und Todesursachen bleiben sinnentleert. Welche Botschaft soll vermittelt werden? Welche Bedeutung hat die tägliche Nennung der bisher gemeldeten Fälle? Wir interessieren uns auch nicht für die bisher und täglich gemeldeten Fälle von Grippeinfektionen, Schlaganfällen oder Unfalltoten, auch nicht, wie viele Menschen sich von einer Grippe wieder erholt haben oder aus der Intensivstation entlassen wurden.

Die Nennung von Rohdaten ohne Bezug zu anderen Todesursachen führt zur Überschätzung des Risikos. In Deutschland versterben etwa 2500 Personen pro Tag, pro Jahr sind es fast eine Million Bürger*innen, die an den unterschiedlichsten Todesursachen versterben. Die Angaben zu den Todesfällen durch Covid-19 sollten daher beispielsweise auch die wöchentlich verstorbenen Personen mit Angabe der Gesamttodesfälle in Deutschland nennen. Auch ein Bezug zu Todesfällen durch andere akute respiratorische Infektionen sollte berichtet werden. Die Zuordnung zu Altersgruppen müsste möglich sein. So zeigen Daten des Statistischen Bundesamts für den Monat April 2020 eine etwa 10%ige Erhöhung der Gesamtsterblichkeit. Allerdings hatte in der Vergangenheit schon eine ‚einfache‘ Grippe-Welle deutlich höhere Sterblichkeitsanstiege verursacht.

Darstellung des natürlichen Verlaufs

Ein wichtiges Kriterium einer verständlichen Risikokommunikation ist die Darstellung des sogenannten natürlichen Verlaufs einer Erkrankung bzw. im Fall von COVID-19 der Pandemie. Was würde passieren, wenn es keine Interventionen gäbe? Im Falle der SARS-CoV-2 Infektion – was wäre, wenn keine präventiven Maßnahmen umgesetzt worden wären? Zur Beschreibung des sog. Präventionsparadox gab es in den Medien gelungene Beispiele, wie „Aufspannen des Regenschirms und nicht nass werden“. Hochrechnungen nennen für Deutschland dazu Zahlen bis zu etwa 500.000 Todesfälle durch COVID-19, die durch die präventiven Maßnahmen verhindert werden konnten (Flaxman S et al. 2020). Letztlich bleiben diese Schätzungen jedoch hoch spekulativ. Die Ausbreitung von SARS-CoV-2 unter natürlichen Bedingungen ist unbekannt. Theoretisch könnte das nur in einem Land analysiert werden, in dem keinerlei präventive Maßnahmen gesetzt würden und das zudem über eine vertrauenswürdige Dokumentation und Berichterstattung verfügt. Auch Schweden eignet sich nur bedingt als Beispiel, da selbst dort unterschiedliche Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie empfohlen und umgesetzt wurden.

Umstrittene Einzelfallberichte 

Die Frage, inwieweit es gerechtfertigt ist, in den Medien exemplarisch schwer verlaufende Einzelfälle emotionsreich darzustellen, ohne Einordnung in das Gesamtspektrum von Krankheit und Tod, bleibt aus Perspektive der EbM umstritten. Aktuell werden Einzelfälle von schwer Erkrankten ausführlich präsentiert. Es wird auf spezifische Folgeerkrankungen aufmerksam gemacht, darunter äußerst seltene Krankheitsbilder bei Kindern. Für eine sinnvolle Einordnung der Beobachtungen wären jedoch Vergleiche notwendig. So gibt es auch bei Grippe schwere Folgeerkrankungen, insbesondere des Herzens. Jede Behandlung auf einer Intensivstation hat zudem ein bestimmtes Risiko von Folgeschäden. Inwiefern die Komplikationen auf die COVID-19 Erkrankung selbst oder die Behandlung auf der Intensivstation, eventuell aufgrund schwerer Grunderkrankungen, zurückzuführen sind, müsste systematisch im kontrollierten Vergleich untersucht werden.

Nur im kontrollierten Vergleich ließe sich beurteilen, welche Ereignisse spezifisch auf COVID-19 zurückzuführen wären. Einzelfallberichte können Hypothesen generieren, nicht jedoch ursächliche Zusammenhänge belegen. Für eine mediale Berichterstattung ohne umfassende Einordnung der Befunde erscheinen Falldarstellungen ungeeignet. Insgesamt ist die Sprache in der medialen Berichterstattung oft alarmierend. Es scheint als würde die eigene Angst der Berichterstatter*innen in der Auswahl und Formulierung der wissenschaftlichen Daten mittransportiert.

Berichterstattung über Nebenwirkungen

Die Nennung von Nebenwirkungen präventiver Maßnahmen und die Abschätzung des Ausmaßes dieser Effekte wäre für eine ausgewogene Berichterstattung unverzichtbar. Es gibt unerwünschte negative, aber auch positive Nebenwirkungen. Eine verlässliche Beurteilung der Kollateraleffekte erscheint aktuell nicht möglich. Dazu braucht es eine systematische Dokumentation und Auswertung von medizinischen Diagnosen, Krankhauseinweisungen und Todesursachen. Auch die Mitberücksichtigung nichtmedizinischer Effekte erfordert eine systematische wissenschaftliche Aufarbeitung. Eine seriöse Beurteilung der erwünschten und unerwünschten positiven und negativen Effekte der präventiven Interventionen wird erst in Laufe der nächsten Monate und Jahre möglich sein.

Kommunikation von Unsicherheit

Die große Unsicherheit, die eine neue Infektionskrankheit von pandemischem Ausmaß begleitet, erfordert eine verständliche Kommunikation dieser Unsicherheit zu allen Angaben. In der medialen Berichterstattung müsste auf die Unsicherheit der Daten immer wieder aufmerksam gemacht werden. Odette Wegwarth und Koautor*innen formulieren in ihrem Artikel einige Vorschläge für die Kommunikation dieser Unsicherheit. Zudem präsentieren sie eine Faktenbox zur Abschätzung der Wahrscheinlichkeit und Risiken einer Infektion mit Grippe- im Vergleich zu SARS-CoV-2-Viren. Allerdings müssen die Daten einer solchen Faktenbox auch regelmäßig aufgrund neuer Evidenz aktualisiert werden.

EbM Netzwerk fordert offene Diskussion

Evidenzbasierte Medizin lebt von einer offenen Diskussion kontroverser wissenschaftlicher Ergebnisse. Ein öffentlicher Diskurs ungeklärter Fragen wäre wünschenswert. Aktuell werden die Kontroversen aus unserer Sicht unzureichend in den etablierten Medien aufgegriffen. Die Präsentation der Daten erscheint einseitig, offene Fragen werden nicht angemessen angesprochen.

Die aktuellen Daten zu COVID-19 sind mit großer Unsicherheit behaftet. Es ist zumutbar der Bevölkerung diese Unsicherheit verständlich zu kommunizieren. Die Menschen wollen ehrlich und unmissverständlich informiert werden. Evidenzbasierte Medizin sieht dies als Kernelement der Kommunikation mit Bürger*innen und Patient*innen. Nur so kann in einer aufgeklärten Gesellschaft langfristig eine Vertrauensbasis hergestellt und aufrechterhalten werden, die ein rationales, auf wissenschaftlichen Fakten basierendes Handeln ermöglicht und die Kooperation der Bevölkerung im Katastrophenfall sichert.

 

Kriterien für evidenzbasierte Risikokommunikation extrahiert aus 1) Gute Praxis Gesundheitsinformation und 2) Leitlinie Gesundheitsinformation:

Für die Kommunikation von Zahlenangaben und Wahrscheinlichkeiten gelten unter anderem folgende Grundsätze:

  • Zahlen mit einer sinnvollen Bezugsgröße ermöglichen es, die Größenordnung eines Problems bzw. der Effektivität einer Maßnahme zu erkennen. In Gesundheitsinformationen sollten gleiche Bezugsgrößen eingesetzt werden.
  • Für Nutzen und für Schaden sollten – soweit möglich – einheitliche Bezugsgrößen gewählt werden. Ausgangspunkt der Information sollte ein Basisrisiko sein (zum Beispiel der „natürliche Krankheitsverlauf“). Dies meint die Wahrscheinlichkeit, mit der sich ein Beschwerdebild auch ohne medizinische Intervention verbessert, verschlechtert oder konstant bleibt. Die Information, dass sich viele Beschwerdebilder auch ohne Behandlung bessern können, sollte den Nutzerinnen und Nutzern vermittelt werden.
  • Der Effekt einer medizinischen Maßnahme sollte durch Darstellung der absoluten Ereignishäufigkeiten in den zu vergleichenden Gruppen angegeben werden. Welches Maß an Sicherheit die Zahlen haben, sollte benannt werden. Auf Daten, die nicht ausreichend sicher sind, sollte verzichtet werden.
  • Die Veränderungen der Wahrscheinlichkeiten von Ergebnissen sollten als absolute Risikoänderung dargestellt werden.
  • Je nach Kontext kann es sinnvoll sein, zusätzlich zur absoluten Risikoänderung auch relative Änderungen darzustellen. Die alleinige Darstellung der relativen Risikoänderung ist jedoch zu vermeiden, weil damit die Größenordnung von Effekten nicht vermittelt wird.
  • Angemessen kann die Kombination von Darstellungen sein (zum Beispiel absolutes Risiko, relatives Risiko, unterstützt durch grafische Darstellung). Behandlungsergebnisse werden mit komplementären Angaben zu ‚Gewinn-Verlust’ ergänzt – beispielsweise „x von 100 Patienten überleben“ bzw. „y von 100 Patienten versterben“ (Bezugsrahmensetzung, „Framing“). Unterschiedliches Framing desselben Sachverhalts kann unterschiedliche Effekte bei Patientinnen und Patienten bewirken, z.B. in der Risikowahrnehmung, dem Verständnis und der Motivation. Ausgewogenheit beim Framing ist erforderlich, um Patienten und Patientinnen nicht einseitig zu beeinflussen.

 

Zur Stellungnahme als PDF

 

i.A. Karsta Sauder

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